Der sogenannte Integritätszuschlag von 30 % auf dem Wiederbeschaffungswert wird seitens der Versicherungswirtschaft immer wieder angegriffen und für dogmatisch verfehlt und/oder nicht mehr zeitgemäß erachtet. Der Bundesgerichtshof hatte Ende 2021 wieder Gelegenheit hierzu Stellung zu nehmen und er hat diese Kritik an seiner Rechtsprechung nicht aufgenommen, sodass in absehbarer Zeit mit einer grundsätzlichen Änderung dieser gefestigten Rechtsprechung nicht zu rechnen ist.
Ganz im Gegenteil: Der Bundesgerichtshof hat festgestellt, dass der Geschädigte ausnahmsweise auch dann den Integritätszuschlag von 30 % über dem Wiederbeschaffungswert in Anspruch nehmen und damit die tatsächlich angefallenen Reparaturkosten verlangen kann, wenn die Prognose des Sachverständigen die oberhalb der 130 %-Grenze lag. Bisher hatte der Bundesgerichtshof nur formuliert, dass „jedenfalls unter solchen Umständen“ (der Geschädigte hatte gemäß Gutachten einen Totalschaden größer 130 % und dann tatsächlich eine Reparaturrechnung über die vollständige sach- und fachgerechte Reparatur von unter 100 % (!) vorgelegt) dem Geschädigten die Abrechnung der konkret angefallenen Reparaturkosten nicht verwehrt werden kann, BGH, Urteil vom 14. Dezember 2010 – VI ZR 231/09.
Nunmehr stellt der Bundesgerichtshof klar, dass der Geschädigte auch über dem Wiederbeschaffungswert liegende Reparaturkosten (also zwischen 100 und 130 %) ersetzt verlangen kann, wenn er nachweist, dass die Prognose des Gutachters falsch und sich eine fachgerechte und den Vorgaben des Sachverständigen entsprechende Reparatur auch zu einem Preis durchführen ließ, der unterhalb der 130 % Grenze lag:
„Der Senat hat bisher offengelassen, ob ein entsprechender Ersatzanspruch auch dann besteht, wenn abweichend von der Schätzung des vorgerichtlichen Sachverständigen für die vollständige und fachgerechte Reparatur des Fahrzeugs Kosten entstehen, die sich unter Berücksichtigung eines merkantilen Minderwertes auf 101 % bis 130 % des Wiederbeschaffungswerts belaufen (…) Diese Frage ist nunmehr zu bejahen. Gelingt es dem Geschädigten entgegen der Einschätzung des von ihm beauftragten Sachverständigen zur Überzeugung des Tatrichters, die erforderliche Reparatur – auch unter Verwendung von Gebrauchtteilen – innerhalb der 130 % fachgerecht und in einem Umfang durchzuführen, wie ihn der Sachverständige zur Grundlage seiner Kostenschätzung gemacht hat, und stellt er damit den Zustand seines Fahrzeugs wie vor dem Unfall wieder her, um es nach der Reparatur weiter zu nutzen, kann ihm die „Integritätsspitze“ von 30 % nicht versagt werden. (…) Der Geschädigte kann dann Ersatz der tatsächlich angefallenen Reparaturkosten und es merkantilen Minderwertes verlangen.“
(BGH, Urteil vom 16. November 2021 – VI ZR 100/20)